Herr Bundesrat
Sehr geehrte Damen und Herren Regierungsrätinnen und -räte
Sehr geehrte Damen und Herren
Ich bin heute zum ersten Mal an diesem regierungsrätlich-hochkarätigen Anlass dabei.
Lange habe ich gerätselt, weshalb mir diese Ehre zuteil wurde. Doch gestern, als wir
an der Bar noch lange gemeinsam sangen, begleitet von der Handorgel des offiziellen
musikalischen Leiter der KdK und der CH-Stiftung, RR Alfred Stricker, ja da fiel es mir
wie Schuppen von den Augen: Natürlich, Sie haben mich eingeladen als Präsidenten
– der Bundeshaus-Band. Entsprechend lade ich Sie zu einigen musikalischen
Gedanken ein.
Stellen Sie sich die Schweiz als Orchester vor. Die Bevölkerung spielt die erste
Geige. Und auch die zweite und dritte. Dies, derweil die Trompeten – die Politik –
versuchen, die Melodie vorzugeben. Der Synthesizer - die Wissenschaft – schafft
neue Klänge. Viefältige Flöten – die Kultur - umspielen die Melodie. Das Cello, die
soziale Wohlfahrt, sorgt für Wärme. Das Schlagzeug fördert mit vorwärtstreibenden
Beats den wirtschaftlichen Fortschritt. Dabei freue ich mich, lieber Beat, dass wir hier
mit Dir mindestens zwei Schlagzeuger im Saale sind, wobei Du beneidenswerterweise
den Beat sogar im Vornamen trägst. Das wichtigste Instrument aber ist der
Kontrabass, er entspricht unseren Institutionen. Wie man nämlich auch von Alfred
Stricker lernen kann, nennt man beim Appenzeller Naturjodel, dem Zauren, die
Bassstimme «Graadhebe», weil sie den Ton stabilisiert – so wie unsere Institutionen
unser Zusammenleben.
Jedes Instrument, jede Stimme ist einzigartig und dennoch vereint in einer
Symphonie der Vielfalt. Doch was passiert, wenn die Instrumente verstimmt sind,
oder wenn jeder taub für andere sein Solo spielt? Aus der Harmonie wird Kakophonie,
aus dem Konzert ein ohrenschmerzendes Durcheinander.
Wir kennen das schon aus der Geschichte. Die Schweiz war ja nicht immer ein
harmonisches Orchester. Sie war geprägt von politischer Zersplitterung und
konfessionellen Gräben. Aber im Willen zu Freiheit und gemeinsamer
Selbstbestimmung haben die unterschiedlichen Kantone zusammengefunden, haben
sich orchestriert, haben die Partitur für die moderne Schweiz komponiert: Mit
Rechtsstaat, direkter Demokratie, Milizsystem, Föderalismus, Konkordanz. Diese
Notenblätter unserer politischen Kultur garantieren, dass alle Stimmen gehört, alle
Interessen berücksichtigt werden. Wir alle sind gleichzeitig Komponisten, Interpreten
und Zuhörer. So entsteht aus einzigartigen Instrumenten und Stimmen eine
Symphonie der Vielfalt.
Ihr Motto «Sicherheit und gesellschaftlicher Zusammenhalt» ist bei uns mehr als
nur ein Schlagwort. Es verkörpert die Sehnsucht nach Stabilität, nach einem Einklang
von Tradition und Fortschritt, nach einer Gesellschaft, in der sich jeder zugehörig fühlt.
Während anderswo die politische Bühne zur Reality-Show oder gar zum Schauplatz
der Gewalt verkommt, tauschen wir in der Schweiz schlicht jährlich die
Regierungsfotos aus und folgen weiter einem besonnenen Andante moderato. Doch
Vorsicht: Besonnenheit darf nicht in Gleichgültigkeit umschlagen und nicht zu einem
Wiegenlied werden, das uns einlullt und den Blick auf die Herausforderungen unserer
Zeit verhindert. Sonst wird das Wiegenlied zum Abgesang auf uns selber.
Die Welt verändert sich rasant, und die Schweiz ist kein schalldicht abgeschotteter
Konzertsaal. Digitalisierung, Globalisierung, die Fragmentierung der Öffentlichkeit und
die Einflüsse von machtbesessenen Autokraten auf allen Kanälen – neue
Herausforderungen, die unser Orchester auf die Probe stellen.
Denken Sie an die Debatte um die Covid-Massnahmen, die in den sozialen Medien
mit einer beispiellosen Aggressivität geführt wurde. Oder an die Diskussionen rund um
den russischen Angriff auf die Ukraine, wo die Troll-Armeen der Autokraten im Inund
Ausland die Desinformation befeuern. Ein weiteres Beispiel sind identitäre
Bewegungen, die zwar Diversität predigen, aber dabei selber ins Stammesdenken
fallen. Das Internet als gewaltiger Resonanzkörper verstärkt den Lärm, Hass und
Hetze greifen oft ungeahndet um sich. Die Gräben zwischen den Meinungslagern
werden tiefer. Und hier liegt der Widerspruch: Unsere Gesellschaft wird immer
heterogener, vielfältiger, bunter – ein Medley unterschiedlicher Kulturen, Sprachen,
Lebensentwürfe. Gleichzeitig erleben wir eine zunehmende Polarisierung in der Politik,
eine Verschärfung der Fronten, die dieser gesellschaftlichen Vielfalt diametral
entgegengesetzt ist. Aus dem Orchester droht ein Ensemble von Solisten zu werden,
jeder versunken in seiner eigenen Partitur, taub für die Melodien der anderen.
Wie können verhindern, dass unser Orchester im Chaos versinkt? Indem wir die
Partitur der Bundesverfassung neu lesen. Vor genau 25 Jahren, pünktlich zum
Millenium, trat sie in nachgeführter Form in Kraft – eine "neue" Verfassung für ein
neues Jahrhundert, die die Grundwerte alten Zusammenlebens übernahm: Freiheit,
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Föderalismus.
Ich erinnere mich noch lebhaft an die Abstimmung. Sie war eine der ersten, an
denen ich teilnehmen durfte – genau am Vortag meines 19. Geburtstag, quasi als
Geschenk. Besonders prägend war für mich die Tatsache, dass mein Kanton und fünf
weitere endlich nicht mehr als Halbkantone bezeichnet wurden. Wir waren nun
immerhin nominell vollwertige Mitglieder im Orchester der Eidgenossenschaft, und die
halbe Standesstimme ist nach wie vor besser als gar keine.
Meine Damen und Herren: Besinnen wir uns auf diese Grundtöne, diese Prinzipien,
auf die wir uns einigten und mit denen wir unser Land zum Bundesstaat formten. Also:
Instrumente stimmen, den gemeinsamen Klang suchen, und offline wie online immer
ein offenes Ohr füreinander haben, die Bereitschaft für die konstruktive
Auseinandersetzung – „Konzert“ bedeutet ja „Wettstreit“ – der Klänge und der
aufrichtigen Argumente.
Eine besondere Verantwortung kommt natürlich uns Politikern zu, als
Leadstimmen im Monsterkonzert Schweiz. Aber nicht nur wir – ein jeder von uns trägt
Verantwortung dafür, dass die Schweiz ein Land bleibt, das Freiheit, Sicherheit und
Chancen für alle bietet, wie ein vielstimmiges Orchester auf der ständigen Suche nach
dem Vielklang in Harmonie. So wie gestern an der regierungsrätlichen Bar.
Ich wünsche Ihnen allen ein klangvolles 2025.