«Die Reform erreicht, was es braucht»

Arbeitgeberverband stellt sich hinter die AHV 21

Als Ressortleiter Sozialpolitik und Sozialversicherungen beim Schweizerischen Arbeitgeberverband ist Lukas Müller-Brunner ausgewiesener Experte für die Altersvorsorge. Im Interview spricht er über die Notwendigkeit der AHV-21-Reform und darüber, weshalb die Frauen davon profitieren.

Herr Müller-Brunner, wie geht es der AHV heute?
Nicht wirklich gut, bei einem menschlichen Patienten würde man wohl von einem kritischen Zustand sprechen. Ein guter Indikator, um die finanzielle Gesundheit der AHV zu messen, ist das sogenannte Umlageergebnis. Damit wird gemessen, welcher Teil der laufenden Rentenausgaben durch jährliche Einnahmen gedeckt ist. Von 2014 bis 2020 war dieses Ergebnis negativ, mit zunehmender Tendenz. Seither kann sich die AHV finanziell über Wasser halten – dies aber nur, weil seit Anfang 2020 jährlich 2 Milliarden Franken zusätzlich in das Sozialwerk gepumpt werden (STAF-Vorlage). Eine Bluttransfusion, ohne die eigentliche Blutung zu beheben, quasi.

Am 25. September stimmen wir über die Reform AHV 21 ab. Wie beurteilen Sie die Vorlage aus Sicht des Arbeitgeberverbandes?
Es ist ein guter Kompromiss. Die Arbeitgeber haben sich stets dafür ausgesprochen, dass die AHV von einer reinen Finanzspritze wegkommt. Das heisst, es braucht strukturelle und finanzielle Massnahmen. Mit der Flexibilisierung des Rentenalters, der Angleichung des Referenzalters für Frauen und den Zusatzeinnahmen durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer ist das gelungen. Entsprechend stehen wir hinter der Vorlage und unterstützen sie, wie übrigens auch die anderen beiden Dachverbände Economiesuisse und Gewerbeverband.

Die letzte grosse AHV-Reform gelang vor 25 Jahren. Was braucht es, dass die AHV 21 erfolgreich ist?
Am wichtigsten scheint mir das Bewusstsein der Bevölkerung für die Notwendigkeit dieser Vorlage. In den letzten 25 Jahren ist man ohne Reform durchgekommen, was von den Gegnern ja auch immer gerne ins Feld geführt wird. Nur müssen wir uns vor Augen halten: Wir haben wirtschaftlich eine unglaublich gute Zeit erlebt, mit schönen Wachstumsraten und einer hohen Zuwanderung. All das hat die AHV zusammen mit der Zusatzfinanzierung über Wasser gehalten. Sobald diese Entwicklung aber nachlässt – und die Zeichen stehen im Moment nicht sonderlich positiv –, brechen die Zahlen der AHV ein wie ein Kartenhaus. Wir müssen der Bevölkerung also klarmachen: Ein Nein heisst, dass wir ohne Lösung dastehen.

Kann die AHV 21 die erste Säule stabilisieren?
Kurzfristig ja. Durch die Kombination aus strukturellen und finanziellen Massnahmen verstärken sich die einzelnen Elemente gegenseitig, was für die AHV-Finanzen stabilisierend wirkt. Darüber hinaus sind wir uns aber einig: Die erste Säule hat durch die steigende Lebenserwartung und die demografische Entwicklung ein langfristiges Problem, das sich entsprechend auch nur langfristig beheben lässt. Die aktuelle Reformvorlage ist daher ein erster wichtiger Zwischenschritt, den es dringend braucht. Im Anschluss müssen wir aber einen Reformrhythmus etablieren, um auf Veränderungen von aussen reagieren zu können. Entsprechend hat das Parlament den Bundesrat beauftragt, bis Ende 2026 erneut eine Vorlage aufzugleisen.

Reformgegner rücken eine scheinbare Benachteiligung der Frauen ins Zentrum. Ist das gerechtfertigt?
Auf keinen Fall! Die Linken sind in ihren ideologischen Mustern derart verfangen, dass sie die Realität aus den Augen verloren haben: Die Reform hilft genau denjenigen Frauen am meisten, für die sich die Gegner sonst gerne starkmachen. Zwei Beispiele: Wenn jemand Beitragslücken hat, zum Beispiel wegen eines Erwerbsunterbuchs, ist das im heutigen System unwiederbringlich verloren. Mit der AHV-Reform hingegen kann man verlorene Beitragsjahre nachholen und so eine lebenslange Rentenkürzung vermeiden. Zweites Beispiel: Innerhalb der neun Jahrgänge der Übergangsgeneration hat jede Frau die Wahl: Sie kann entweder länger arbeiten und erhält einen lebenslangen Rentenzuschlag von bis zu 1920 Franken pro Jahr, oder sie kann sich mit massiv tieferen Kürzungssätzen als bisher weiterhin im Alter 64 pensionieren lassen. Damit haben wir eine Reform, die erreicht, was es braucht: zielgerichtete Zusatzmassnahmen für die tatsächlich Betroffenen statt Rentenerhöhungen für alle nach dem Giesskannenprinzip.

Als Verbandsexperte haben Sie eine Aussensicht auf die Politik. Ist der Handlungsbedarf bei den Sozialversicherungen genügend erkannt?
Ich denke nicht, dass es am Erkennen des Handlungsbedarfs mangelt, sondern an den daraus abgeleiteten Konsequenzen. Eigentlich sind sich alle einig, dass es Lösungen braucht. Sobald man aber konkret wird, geht der Streit los. Vielleicht ist das ein Grunddilemma: Wenn wir den Generationen nach uns kein Desaster hinterlassen wollen, müssen wir heute Massnahmen ergreifen, die stellenweise schmerzen, und eben nicht nur darüber diskutieren. Für die Altersvorsorge bietet die AHV-Reform eine gute Chance.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Schweizer Altersvorsorge?
Im Kern haben wir bei der Altersvorsorge ein abstruses Problem: Die Welt entwickelt sich weiter, die Lebenserwartung steigt, die Arbeitsmodelle verändern sich. Die Vorsorge aber bleibt in ihrem gesetzlichen Korsett verhaftet. Das ist, als würde man die Schwerkraft per Gesetz verbieten wollen, es funktioniert einfach nicht! Ich würde mir daher wünschen, dass man Mittel und Wege findet, um aus dem ewigen Reformstau zu entfliehen.

Interview: Marco Wölfli