Replik zum offenen Brief zur Reform „Altersvorsorge2020" von Travail.Suisse

Sehr geehrter Herr Wüthrich

Herzlichen Dank für Ihr Schreiben von 20. Februar 2017. Mit Recht betonen Sie, dass AHV und BVG in einer sehr schwierigen Lage sind. Die stetig ansteigende Lebenserwartung und die Tiefzinsphase stellen das BVG vor grosse Herausforderungen. Die Probleme sind bei der AHV aufgrund des Renteneintritts der Babyboomer-Generation noch sehr viel grösser. Darum ist die Sicherstellung der Finanzierung der Altersvorsorge für FDP.Die Liberalen eine der wichtigsten innenpolitische Ziele dieser Legislatur. Die FDP bringt sich konstruktiv und kompromissbereit in den Verhandlungen ein: Wir beharren nicht auf unseren Positionen und bieten Hand für Lösungen. Was aber im Rahmen der Reform der Altersvorsorge im Ständerat als Kompromiss gefeiert wird, werten wir als Powerplay von SP und CVP. Dies bereitet uns im Hinblick auf den weiteren Reformverlauf grosse Sorgen. Eine derart wichtige Reform kann nicht alleine von diesen beiden Parteien beim Volk durchgebracht werden.

Kompromisse treffen auf Kompromisslosigkeit


Während wir uns in beiden Räten bewegen und Kompromissvorschläge eingebracht haben, empfinde ich die spürbare Verhärtung der Front im Ständerat als ungewöhnlich für die Chambre de Réflexion, welche sonst weniger nach harten parteipolitischen Aspekten funktioniert. Fakt ist: Die Mehrheit des Ständerates (CVP und SP) hat sich bisher nicht bewegt und weigert sich, von seinen Positionen wegzukommen. Fakt ist auch: Wir haben in beiden Räten Vorschläge eingebracht, welche nicht unsere ureigenen Parteipositionen (Möglichkeiten für Frühpensionierungen, Abschaffung des Koordinationsabzugs), sondern Kompromissvorschläge sind, welche darauf abzielen, dem Volk eine möglichst nachhaltige, vorteilhafte und überzeugende Lösung zu präsentieren. Sie erwähnen die Erhöhung der Mehrwertsteuer – glauben Sie mir: Das weckt bei Freisinnigen noch weniger Begeisterungsstürme, als bei Ihren Mitgliedern. Auch wollten wir von Anfang an kleine und überblickbare Reformpakete, welche im Rahmen der direkten Demokratie auf sinnvolle Art und Weise dem Volk unterbreitet werden können.

Die 70 Franken als Totengräber der Reform


Sie bezeichnen die „70 Franken" der Ständeratsvariante als nötige Massnahme, um breiten Bevölkerungskreisen aufzuzeigen, dass die Reform für sie von konkretem Nutzen ist. Dies ist schlicht nicht fertiggedacht. Das SR-Modell ist nicht einfacher als das Modell der SGK-N, sondern komplexer zu erklären. Während das SR-Modell Kompensationsmassnahmen im BVG und der AHV vorsieht, will der NR nur im BVG Massnahmen treffen. Ausserdem eignen sich die 70 Franken noch schlechter als „Verkaufsargument" für die Reform als die gescheiterte Volksinitiative AHVplus. Während bei AHVplus bestehende und zukünftige Rentner von einer Rentenerhöhung „profitiert" hätten, gehen die heutigen Rentner bei der Reform des Ständerates leer aus – und müssen gleichzeitig eine massive Erhöhung der Mehrwertsteuer berappen. Nach zahlreichen persönlichen Gesprächen mit Rentnern sage ich Ihnen: Diese Zweiklassen-AHV ist der Tod der Reform. Um weiter zu beurteilen, ob die 70 Franken in der Volksabstimmung ein „Asset" sind, respektive, ob das Ständeratsmodell hält, was es verspricht, ist es dienlich sich zu fragen, wer davon profitiert und ob dies auch sachdienlich ist. Wer bei Inkrafttreten der Reform:

  • bereits im Rentenalter ist, hat keine AHV-Erhöhung, muss aber mehr Mehrwertsteuer einzahlen.

 

  • zwischen 50 und 65 Jahre alt ist, befindet sich in der sogenannten Übergangsgeneration, welche von der Senkung des Umwandlungssatzes ausgenommen ist. Dennoch erhält diese Generation 840 Franken mehr Rente (12x70 Franken). Dies ist Giesskannenpolitik der schlimmsten Sorte (und ungerecht gegenüber den bestehenden Rentnern).

 

  • zwischen 45 und 49 Jahre alt ist, hat trotz AHV-Erhöhungen eine Rentenkürzung von bis zu -827 Franken pro Jahr.

 

  • zwischen 40-44 Jahre alt ist, hat trotz AHV-Erhöhungen eine Rentenkürzung von bis zu -478 Franken pro Jahr.

Die tiefen Lohnklassen profitieren ebenfalls nicht von den 70 Franken. Bezüger von Ergänzungsleistungen (EL) hätten gleich viel Einkommen wie vorher (Kürzung der EL um 70 Franken) oder würden – falls sie wegen den 70 Franken das Anrecht auf EL verlieren – noch schlechter fahren als vorher (höhere Steuern, Wegfall Prämienverbilligung, Wegfall Billag-Befreiung). Zusätzlich stellt sich die Frage nach der Erhöhung des Frauenrentenalters. Diese Massnahme entlastet die AHV um etwa 1 Milliarde Franken. Die Zusatzkosten der 70 Franken? Ebenfalls etwa eine Milliarde Franken. Für Frauen heisst das: Länger arbeiten, mehr Mehrwertsteuer bezahlen und damit eine AHV-Erhöhung auch für Besserverdienende finanzieren. Das ist in meinen Augen ein schlechter Deal.

Brandbeschleuniger: Die 70 Franken sind schlechter als ihr Ruf


Diese Tatsachen sind der Öffentlichkeit heute noch nicht bewusst. Die 70 Franken mögen momentan beliebt sein, aber früher oder später werden solche Ungerechtigkeiten thematisiert und aufgedeckt. Damit verkommen die AHV-Erhöhungen zu einer 1,4 Milliarden Franken teuren Marketingmassnahme, welche sich negativ auf die Reformchancen auswirkt. Der Vollständigkeit halber sei hier auch erwähnt, dass diese AHV-Erhöhungen – angesichts des Renteneintritts der Babyboomer – zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt käme. Anstatt die AHV auf diese massive Pensionierungswelle vorzubereiten - der grössten finanziellen Herausforderung seit das Sozialwerk unter FDP-Bundesrat Walter Stampfli eingeführt wurde – werden die Renten erhöht. Sie versuchen das Volk mit süssem Gift zu ködern – das wird schiefgehen. Insbesondere weil die Finanzierung der AHV-Erhöhungen langfristig nicht geregelt ist und ab 2030 die Lohnabzüge wieder erhöht werden müssten, um die AHV-Zuschläge zu finanzieren. Der geplante AHV-Ausbau wirkt wie ein Brandbeschleuniger: 2035 betragen die Kosten bereits 2 Milliarden Franken. Anstatt zu sanieren, würde man also ein noch grösseres und schneller wachsendes Schuldenloch den nächsten Generationen überlassen. Dafür wurde ich nicht nach Bern geschickt.

Wo wir uns bewegen

Die Kosten des Kompensationsmodells der Minderheit im Ständerat (FDP/SVP/BDP) wären, im Vergleich zum Modell der SGK-N, etwas tiefer. Dennoch haben wir uns für ein Kompensationsmodell ohne Koordinationsabzug eingesetzt. Wieso? Damit nehmen wir ein Anliegen auf, das Travail.Suisse, den Gewerkschaften und auch Alliance F am Herzen liegt. Auf der Website von Travail.Suisse finden sich verschiedene Beiträge, wo eine Abschaffung des Koordinationsabzuges verlangt wird. SR Rechsteiner hat im Rahmen der Beratung der Altersvorsorge am 14.09.2015 im Ständerat die Probleme rund um den heutigen Koordinationsabzug als „ernsthaft und virulent" bezeichnet. Diesen Ball haben wir aufgenommen. Mit der Abschaffung des Koordinationsabzuges bieten wir Ihnen, im Gegenzug für den Verzicht auf die schädliche Erhöhung der AHV-Renten um 70 Franken, die Lösung eines Problems, das auf gewerkschaftlicher Sicht virulent ist. Wir erachten ausserdem die ab 45 Jahren nicht mehr ansteigenden Lohnabzüge im BVG und die Möglichkeit für Frühpensionierungen für Wenig-Verdienende als wichtige Punkte für die Volksabstimmung. Ausserdem sind die höchsten möglichen Rentenausfälle im Modell der SGK-N deutlich tiefer als die erwähnten -827 Franken des Ständeratsmodells.

Dass nun diese Vorschläge, welche sich auch weitgehend mit Ihren politischen Zielen decken, von Befürworten des Ständeratsmodells als Sozialabbau bezeichnet werden, ist unredlich. Ich kann mir das nur damit erklären, dass sich die Befürworter der Ständeratslösung ideologisch verrennt haben und sich jetzt nicht mehr eingestehen können, dass das Kompensationsmodell der SGK-N besser ist.

Wo bewegt sich Ihre Seite?


Wir sind bereit, uns mit Ihnen an einen Tisch zu setzen und auch über die weiteren offenen Punkte zu verhandeln. Die 70 Franken haben aber, wie oben beschrieben, für uns einfach zu grosse Nebenwirkungen, als dass man sie einen vernünftigen Kompromiss nennen könnte.

Dem dringlichen Appell Ihres Schreibens entnehme ich, dass Sie uns bitten, auf ein Referendum zu verzichten, sollte sich die Reformvariante des Ständerates durchsetzen. Dafür sei die Lage zu dringlich. Dieser Aussage entnehme ich zwischen den Zeilen, dass Ihre Organisation kein Referendum ergreifen wird, sollte sich die Reformvariante des Nationalrates durchsetzen. Das zeigt mir, dass wir dort auf dem richtigen Weg sind. Wir stehen für Verhandlungen zur Verfügung und hoffen, dass Sie es auch sind – aus Liebe zur Schweiz.

Freundliche Grüsse

Petra Gössi
Präsidentin FDP.Die Liberalen

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Petra Gössi