«Ukraine-Krieg ist ein Angriff auf unsere westlichen Werte»

Bundesrätin Karin Keller-Sutter über ihre Arbeit seit Kriegsausbruch

Es hätte das Jahr der Reformen im Schengen-Raum sein sollen. Eine Agenda im Einklang mit den Zielen von Bundesrätin Karin Keller-Sutter. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat alles auf den Kopf gestellt. Die Justizministerin blickt zurück auf die letzten Wochen, die geprägt waren von der massiven Fluchtbewegung aus der Ukraine und einem Europa, das zusammensteht.

Ende März besuchte Karin Keller-Sutter das Bundeasylzentrum Basel. Foto: EJPD

In der Ukraine herrscht seit dem 24. Februar Krieg. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie vom Kriegsausbruch erfahren haben?
Anfang Februar führte ich bilaterale Gespräche am Treffen der europäischen Justiz- und Innenminister in Lille. Mein tschechischer Kollege rechnete schon damals mit einem Krieg und meinte, es könnte fünf Mio. Flüchtlinge geben. Das hat mich sehr beschäftigt. Im Westen wollte man dies mit Ausnahme der USA nicht sehen. Die Gespräche in Lille, etwa mit den Vertretern aus Polen, der Slowakei oder Österreich, waren in diesem Fall sehr wichtig für mich. Ich rechnete danach jeden Tag mit einem Angriff. Am 24. Februar hat mir mein Mann am frühen Morgen gesagt: «Kiew wird angegriffen.» Ich dachte sofort an die Opfer. Ich habe realisiert, dass dies auch ein Angriff auf unsere westlichen, demokratischen Werte ist.

Waren Ihnen die Auswirkungen auf die Schweiz sogleich bewusst?
Es war mir bewusst, dass viele Ukrainerinnen flüchten würden, um sich in Sicherheit zu bringen. Mittlerweile sind über 36'000 Personen aus der Ukraine zu uns geflüchtet. Aber ganz abgesehen von der Anzahl der Menschen, die jetzt in der Schweiz sind: Wir sind mit ganz vielen menschlichen Schicksalen konfrontiert. Ende März war die Hälfte aller ukrainischen Kinder auf der Flucht. Es fällt schwer, sich das vorzustellen.

Wie funktioniert die europäische Zusammenarbeit in diesem Bereich?
Drei Tage nach Kriegsausbruch haben wir uns in Brüssel getroffen. Am Abend des 27. Februar war mir klar, dass der Schutzstatus S aktiviert werden muss und ich habe sofort entsprechende Aufträge erteilt. Dass die europäische Union mit dem vorübergehenden Schutz etwas Vergleichbares plante, hat die Sache vereinfacht. Eine Koordination auf europäischer Ebene war unabdingbar.

Am 4. März haben Sie erstmalig den Schutzstatus S für Flüchtlinge aus der Ukraine aktiviert. Was führte zu diesem Entscheid?
Der Schutzstatus S ist genau für eine solche Situation erdacht worden: Eine hohe Anzahl Personen, die in kurzer Zeit vor einem Krieg zu uns flieht und unseren vorübergehenden Schutz braucht. Er erlaubt ein vereinfachtes Verfahren zur Aufnahme von Geflüchteten. Im normalen Asylprozess hätten wir die hohe Zahl an Geflüchteten gar nicht bewältigen können. Das System würde kollabieren.

Sie haben auch das Bundesasylzentrum Basel besucht. Welchen persönlichen Eindruck haben Sie erhalten?
Ich war genau einen Monat nach Kriegsausbruch in Basel. In diesen vier Wochen ist es gelungen, in der Schweiz gleich viele Geflüchtete zu registrieren wie sonst in einem ganzen Jahr. Unsere Krisenbewältigung funktioniert. Bei meinem Rundgang in Basel habe ich auch mit Geflüchteten aus der Ukraine sprechen können. Sie haben alle betont, dass sie möglichst schnell wieder in die Ukraine zurückkehren wollen und dass sie der Schweiz nicht zur Last fallen wollen. Viele haben sich bei mir für die Solidarität der Schweiz bedankt.

Erwarten Sie eine weitere Zunahme von Ukraine-Flüchtlingen?
Das UNHCR rechnet mit 10 bis 15 Mio. Vertriebenen. Die Ukrainerinnen und Ukrainer können sich ohne Visum frei im Schengen-Raum bewegen. Es kann also sein, dass einige, die jetzt noch in Nachbarländern zur Ukraine sind, in die Schweiz weiterreisen werden. Das können wir nicht steuern. Wie viele noch kommen, hängt also vom Kriegsverlauf ab. Herr Putin hat es in der Hand.

Falls der Krieg andauert, dürften viele Ukrainerinnen und Ukrainer längerfristig im Land bleiben. Ist die Schweiz dafür gerüstet?
Ja, wir müssen gerüstet sein. Es gibt keine Alternative. Allerdings wird die Unterbringung den Bund und die dafür zuständigen Kantone stark fordern. Viele der Geflüchteten sind zudem gut ausgebildet. Kurz nach Ausbruch des Kriegs habe ich die Sozialpartner eingeladen, um die allfällige Integration in den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Die entsprechenden Arbeiten laufen. Es muss jetzt jeder an seinem Platz seine Verantwortung wahrnehmen, dann meistern wir diese Aufgabe.

Karin Keller Sutter