Managed Care: The Day After

 

 

Interview mit Nationalrat Ignazio Cassis (FDP/TI), veröffentlicht im Inside AAMS, www.ask-aams.ch

Im Interview mit dem Magazin Inside AAMS äussert sich Nationalrat Ignazio Cassis über die Zukunft des Gesundheitswesens nach dem Volksnein zur Managed-Care-Vorlage.

 

 

Frage: Seit der Ablehnung der Managed-Care-Vorlage am vergangenen 17. Juni sprechen die Medien von einer eigentlichen Blockade in der Gesundheitspolitik. Wie bewerten Sie die Situation?

 

Ignazio Cassis: "Wir erleben momentan tatsächlich eine Blockade. Seit dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) im Jahr 1996, wurden alle vorgeschlagenen Reformen in Volksabstimmungen abgelehnt. Hauptgrund hierfür ist die Macht eines Teils der Ärzteschaft, die enormen Einfluss auf die öffentliche Meinung hat. Der einzige Bereich, in dem eine Reform möglich war, ist die Spitalfinanzierung: Hier haben die Ärzte zu spät reagiert, um das Referendum zu ergreifen und – davon bin ich überzeugt – die Revision zu stoppen. Dennoch stellt man fest, dass eine grosse Mehrheit der Bevölkerung mit dem KVG und unserem Gesundheitssystem zufrieden ist. Das macht Veränderungen schwierig."

 

Welche grossen Themen im Bereich der Krankenversicherung und der öffentlichen Gesundheit werden Ihrer Meinung nach in den kommenden Monaten debattiert werden?

 

"Zwei Volksinitiativen gelangen zur Abstimmung: Zum einen diejenige der Linken, die mit ihrer Initiative „für eine öffentliche Krankenkasse“ eine Verstaatlichung unseres Krankenversicherungssystems anstreben, zum anderen die Initiative der Hausärzte, welche die zentrale Bedeutung ihres Berufstands in der Verfassung verankern und damit einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Gesundheitsberufen erlangen möchten.

 

Die Initiative für eine öffentliche Einheitskasse erfreut sich in der Schweizer Bevölkerung grosser Beliebtheit, was mit einer allgemeinen Antipathie gegenüber den Krankenversicherern einhergeht, die ihrerseits bestimmte Fehlentwicklungen zu verantworten haben. Ich denke da an mangelhaftes Reservenmanagement, Jagd auf gute Risiken, fehlende Transparenz in Finanzfragen und jedes Jahr neue Prämienerhöhungen, die nicht selten in einem unpassenden Ton verkündet werden. Hier müssen wir uns auf eine raue Debatte mit ungewissem Ausgang einstellen.

 

Die Initiative der Hausärzte könnte zurückgezogen werden, wenn das Massnahmenpaket, das die politischen Entscheidungsträger derzeit vorbereiten, die Initiantinnen und Initianten zufrieden stellt. Kommt die Initiative jedoch zur Volksabstimmung und wird abgelehnt – was nicht sehr wahrscheinlich ist – wäre dies ein Schritt Richtung Untergang dieses schönen Berufs.

 

Daneben liegen mir noch zwei weitere Reformen am Herzen: zum einen das Präventionsgesetz, über dessen Schicksal in der Session im September 2012 entschieden wird; zum anderen das Bundesgesetz betreffend die Aufsicht über die soziale Krankenversicherung, das in meinen Augen eine Bürokratisierung des Systems, in dem die Versicherer aus der Verantwortung genommen werden, verhindern muss."

 

Welche grossen Reformen sind Ihrer Meinung nach insbesondere im Bereich der Krankenversicherung notwendig, um das aktuelle System zu verbessern und die Entwicklung der Gesundheitskosten einzudämmen?

 

"Die Medizin der Zukunft ist eine Team-Medizin. Unter den jungen Ärzten gibt es viele Frauen, die nur 60 bis 80 Prozent arbeiten möchten, damit ihr Familienleben nicht zu kurz kommt. Die meisten von ihnen wollen nicht als Unternehmerin, sondern als Angestellte tätig sein. Sie wollen in erster Linie ihren Beruf ausüben, sich um ihre Patientinnen und Patienten kümmern und nicht in der Bürokratie versinken. Die Einzelarztpraxis, wie wir sie kennen, wird bis 2050 der Vergangenheit angehören. Es wird „Gesundheitszentren“ geben, in denen einige Ärztinnen und Ärzte Unternehmer, die meisten jedoch Angestellte sind; Gemeinschaftspraxen also, wie es beispielsweise Anwaltskanzleien sind. Diese werden eine grössere therapeutische Freiheit geniessen und gleichzeitig eine höhere finanzielle Verantwortung tragen, denn Freiheit und Verantwortung gehören untrennbar zusammen!

 

Eine solche Medizin wird sicherer und vor allem den neuen Bedürfnissen der Versicherten besser entsprechen: mehr Flexibilität bei den Öffnungszeiten, höhere Effizienz beim Einsatz von teuren, leistungsfähigen Geräten sowie die vermehrte Arbeit in Netzwerken, vor allem mit den Spitälern. Entsprechend wird eHealth in diesen Modellen eine herausragende Rolle spielen.

 

Die Politik muss „ganz einfach“ den rechtlichen Rahmen für diese Entwicklung festlegen. Sie muss für Rechtssicherheit, Datenschutz und günstige Bedingungen für Privatinvestitionen sorgen sowie für die richtigen Anreize, um die heute enorm unterschätzte Gefahr einer medizinischen Überversorgung zu vermeiden."

 

Die Idee, Parallelimporte von Arzneimitteln zu genehmigen, scheint sich in der Politik durchzusetzen. Was halten Sie davon?

 

"Die Möglichkeit des Parallelimports von nicht durch ein Patent geschützten Arzneimitteln besteht bereits heute, wird jedoch kaum genutzt. Man darf sich daher nicht allzu viele Illusionen bezüglich möglicher Einsparungen machen. Ausserdem spielt die Pharmaindustrie eine zentrale Rolle für die wirtschaftliche Prosperität und Stabilität unseres Landes. Es ist sicher richtig, von dieser Branche bestimmte Anstrengungen einzufordern, ohne sie dadurch jedoch zu vertreiben. Das läge nicht in unserem Interesse."

 

Es liegt ein Vorschlag zur Schaffung einer zusätzlichen Altersklasse in der Grundversicherung vor. Dieser wird derzeit vom Bundesamt für Gesundheit geprüft. Wie stehen Sie zu diesem Vorschlag?

 

"Die Solidarität zwischen jungen und älteren Menschen ist ebenso wichtig wie diejenige zwischen gesunden und kranken. Vor 30 Jahren waren ältere Menschen wirtschaftlich mehrheitlich schlechter gestellt als die jüngere Generation. Das ist heute nicht mehr so: Vor allem junge Alleinerziehende befinden sich häufig in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage. Ich denke, man muss offen sein für alle Optionen, die eine kontinuierliche Anpassung der Generationensolidarität an die aktuelle sozioökonomische Situation bewirken. In dieser Frage darf es keine „Glaubenskriege“ geben."

 

In den Medizinberufen kommt es regelmässig zu Debatten über das Zahlstellenregister ZSR – eine den Ärzten zugewiesene Nummer zur Erleichterung der Leistungsabrechnung. Können Sie uns erklären, worum es sich dabei handelt?

 

"Die Ärzte denken oft, es sei die Aufgabe der Krankenversicherer – von denen ihnen die ZSR-Kreditorennummer zugewiesen wird – zu entscheiden, ob die Kosten für ihre Arbeit von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung übernommen werden, oder nicht. Das ist jedoch falsch. Das KVG überträgt die Kompetenz über den „Kontrahierungszwang“ an die Kantone, und jeder Arzt, der vom Kanton eine Genehmigung zur freiberuflichen Ausübung seines Berufs erhalten hat, ist damit automatisch befugt, diesen über die obligatorische Krankenpflegeversicherung abzurechnen. Die Ärzte kennen den rechtlichen Kontext des Gesundheitssystems im Allgemeinen relativ schlecht und haben oft eine falsche Wahrnehmung von der Rolle der Versicherer."

 

Die „Initiative für eine öffentliche Krankenkasse“ der Sozialdemokraten ist zustande gekommen. Jetzt ist das Stimmvolk aufgerufen, zu diesem heiklen Thema Stellung zu beziehen. Was halten Sie von dieser radikalen Lösung?

 

"Unser Gesundheitssystem ist gut aufgebaut: Es ist ein liberales System, in dem die Akteure – Leistungserbringer und Zahlstellen – die Hauptrolle spielen. Der Staat spielt eine nachgeordnete Rolle für Fälle, in denen diese Akteure keine Lösung finden. Im Zentrum dieses Dreiecks befindet sich der Patient – auch in seiner Rolle als Versicherter und Bürger! Die Initiative der sozialdemokratischen Partei strebt eine Revolution unseres Systems an und möchte dem Staat wesentlich mehr Verantwortung übertragen, so wie dies beispielsweise bei der Invalidenversicherung der Fall ist. Ich sehe darin in Anbetracht immenser Wechselkosten keine reellen Vorteile. Wir brauchen eine Evolution, keine Revolution!"

 

Denken Sie, dass die freie Arztwahl im Falle einer Umsetzung des Modells der öffentlichen Krankenkasse gewährleistet ist?

 

"Da, wo der Staat respektive die Kantone heute stark präsent sind – in den Spitälern – gibt es bereits seit 40 Jahren keine freie Arztwahl mehr. Ein anderer Vergleich, in dem der Staat eine zentrale Rolle einnimmt, ist das Schulsystem: Der Staat anerkennt weder die freie Lehrerwahl in der Grundschule, noch die freie Wahl der Schule innerhalb der Kantone. Ich bin daher sicher, dass es im Modell „öffentliche Krankenkasse“ mit einer zentralen Präsenz des Staates keinen Raum für eine freie Arztwahl geben wird."

 

 

Interview: Arnaud Schaller, ASK, Public Affairs