Kein Beitritt der Schweiz zur europäischen Sozialcharta

 

geschrieben von Karin Keller-Sutter, Ständerätin (SG)

20120920

 

1976 hat der Bundesrat die Europäische Sozialcharta des Europarates unterzeichnet. Das Parlament hat jedoch die Zustimmung zu diesem Vertrag, der die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte garantieren soll, bis heute verweigert. Die Charta ist damit nicht ratifiziert und ist demnach für unser Land nicht anwendbar. Grund für den Nicht-Beitritt war stets die berechtigte Befürchtung, die schweizerische Rechtsordnung - vorab im Sozial- und Wirtschaftsbereich - sei mit der Charta nicht vereinbar und müsse unter internationalem Druck ausgebaut werden.

 

 

 

Die Anwendung der Charta wird durch den Europäischen Ausschuss für soziale Rechte überwacht. Diesem müssen die Mitgliedstaaten regelmässig Bericht erstatten. Gestützt darauf werden entsprechende Empfehlungen an die Adresse der Mitgliedstaaten formuliert. Diese müssen in der Folge erklären, wie sie ihre Rechtsordnung mit der Charta in Übereinstimmung bringen.

 

Die Aussenpolitische Kommission des Ständerates hat nun einen neuen Bericht des Bundesrates beraten, der zum überraschenden Schluss kommt, die rechtlichen Hindernisse für einen Beitritt seien nicht mehr vorhanden. Ich zweifle an dieser Darstellung, denn nach wie vor bestehen wesentliche Unterschiede zwischen den Grundsätze der Charta und der Schweizer Rechtsordnung. Problematisch ist zudem, dass die Überwachungsbehörde sehr dynamisch agiert. Beurteilungen, wonach Gesetze als vertragskonform betrachtet werden, können sich schnell ändern.

 

So galt das Schweizer Berufsbildungssystem lange als mit der Charta nicht vereinbar, weil die Lehrlingslöhne als zu tief erachtet wurden. Diese Kritik sei nun ausgeräumt, argumentiert der Bundesrat. Die Frage ist nur, wie lange solche Zusicherungen Bestand haben. Rechtliche Zweifel gibt es auch in Bezug auf die Obergrenze von Entschädigungszahlungen bei missbräuchlicher Kündigung oder bei den Standplätzen für Fahrende.

 

Fest steht hingegen, dass die Ratifizierung der Charta unweigerlich zu einem Anpassungsdruck auf die Schweizer Rechtsordnung führen würde. Innen- und aussenpolitisch könnten die Empfehlungen des Sozialausschusses als Druckinstrument für den weiteren Ausbau des Sozialstaates dienen. Unter Druck geraten könnte auch das vergleichsweise liberale Arbeitsgesetz, das in der Schweiz erfolgreich zu einer hohen Beschäftigung beigetragen hat.

 

Die Ratifizierung bringt der Schweiz aus meiner Sicht keinen Mehrwert. Im Gegenteil wäre zu befürchten, dass sich unser Land als vertragstreuer Staat an sämtliche Empfehlungen halten würde und ihre Rechtsordnung unter internationalem Druck bereitwillig anpassen würde, während hinlänglich bekannt ist, dass sich grosse Mitgliedstaaten oft nicht an die in der Charta verbrieften Rechte halten. Die teils zweistelligen Jugendarbeitslosigkeitsquoten in vielen Mitgliedstaaten sind aus meiner Sicht jedenfalls nicht mit dem in Artikel 1 stipulierten Recht auf Arbeit vereinbar.

 

Im Bericht des Bundesrates steht, die Schweiz werde von den Behörden des Europarates immer wieder auf den Beitritt der Schweiz zur Sozialcharta angesprochen. Ein Beitritt aus Imagegründen ist jedoch klar abzulehnen. Die Schweiz verfügt über einen gut ausgebauten Sozialstaat sowie über einen liberalen Arbeitsmarkt. Auch wenn wir die Sozialcharta nicht ratifizieren, müssen wir uns jedenfalls nicht verstecken und stehen punkto Sozialstaat und Arbeitsmarkt weit besser da als viele Mitgliedstaaten.

 

Erschien im Tagblatt vom 25. Oktober 2014