Wenn man sich ins eigene Fleisch schneidet

 

geschrieben von François Baur, Präsident FDP. Die Liberalen International

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„Was ist denn mit der Schweiz los?", werde ich bei meiner Arbeit als Vertreter des Schweizer Wirtschaftsverbandes in Brüssel von meinen europäischen Kollegen in letzter Zeit immer wieder gefragt. Hatte die massive Annahme der Minderinitiative im Ausland noch ungläubige Zustimmung (und einige Missverständnisse über die Auswirkung der Initiative auf die Unternehmen) ausgelöst, stossen die kommenden Abstimmungsvorlagen auf immer grösseres Unverständnis.

 

 

 

Vorlagen wie die 1:12-Initiative und die Mindestlohninitiative, aber auch die Masseneinwanderungsinitiative, die Ecopop-Initiative oder die Initiative für die Einführung einer eidgenössischen Erbschaftssteuer sind Themen, die auch im europäischen Umland diskutiert werden. Die Schweizer Volksbegehren gehen aber weiter und sind extremer.
Die beobachtenden Europäer sind perplex, weil die Schweizer bislang als ausgesprochen wirtschaftsfreundlich angesehen wurden. Die ausgezeichneten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Schweiz haben viele multinationale Unternehmen dazu bewogen, ihr internationales oder regionales Hauptquartier in der Schweiz aufzuschlagen. Multinationale Unternehmen – etwa 1% aller Unternehmen der Schweiz – tragen heute bis zu 35% an das nationale Einkommen der Schweiz bei und sind für einen Drittel aller Arbeitsplätze verantwortlich. Davon haben die Schweiz und ihre Einwohner bislang stark profitiert: Hohe Löhne für alle, eine der tiefsten Arbeitslosigkeitsraten Europas, ausgeglichene Staatsfinanzen und eine noch immer gut funktionierende Infrastruktur.

 

Weshalb also diese „wirtschaftsfeindlichen" Volksbegehren von Links und Rechts, welche allesamt die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz beeinträchtigen? Eines der Hauptargumente der Initianten ist die „Gerechtigkeit": Lohngerechtigkeit bei der 1:12- und der Mindestlohninitiative, Verteilgerechtigkeit bei der Erbschaftssteuer- oder der Familieninitiative. Als Argumentationshilfen werden von den Initianten gerne extreme Einzelfälle angeführt, welche uns allen die Haare zu Berge stehen lassen. Das Problem ist aber, dass die Initiativen nicht nur diese volkswirtschaftlich irrelevanten Einzelfälle beseitigen werden, sondern die Standortvorteile der Schweiz als Ganzes verschlechtern. Leidtragende sind nicht einige Wenige, sondern wir alle, insbesondere der Mittelstand.

 

Im Falle der 1:12-Initiative wird der Mittelstand die durch die tieferen Löhne entstehenden Beitragsausfälle der Sozialversicherungen zu tragen haben. Hinzu kommt – und dies ist für mich als Liberaler besonders störend – die zunehmende Übertragung der Entscheidungsgewalt von den privaten Marktteilnehmern auf den Staat. Am stärksten der Fall ist dies bei der 1:12- und der Mindestlohninitiative, wo die Entscheidungshoheit den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden weggenommen wird. Aber auch die anderen kommenden Initiativen erhöhen die zentrale Staatsgewalt und schränken die private Freiheit ein. Was dabei volkswirtschaftlich herauskommt, lässt sich in unserer Nachbarschaft anschaulich beobachten. Deshalb sollten wir endlich aufwachen, uns die populistischen Volksbegehren im Gesamtkontext ansehen und dann dazu klar Nein sagen. Wer sich zu oft ins eigene Fleisch schneidet, riskiert zu verbluten.